Henrys Mittsommernachts-Abenteuer
oder
Wie Enfys ihre Elfenflügel verdiente
Von Maggi Payne, Florida

Henry war, kurz gesagt, erschöpft. Er hatte fast den ganzen Vormittag in der lokalen Bibliothek verbracht, wo ihm Kinder bei seinen READing Paws-Besuchen jeden zweiten und vierten Samstag im Monat vorlasen. Nach einem Mittagsschläfchen fuhren er und seine Besitzerin Holly zum Haus seiner Züchterin, wo sie zu einer Mittsommernachts-Party eingeladen waren. Henry spielte und rannte um die Wette mit seinen Brüdern, Schwestern, Tanten, Onkeln, Vettern und Kusinen und tat sich gütlich an den vielen Köstlichkeiten, die anlässlich der Feierlichkeiten aufgetischt wurden. Schliesslich weiss jeder Corgi um die Bedeutung der Nacht vor der Sommer-Sonnenwende in der walisischen Folklore.

Etwas Vorgeschichte ist hier zweifelsohne angezeigt. Henry, ein attraktiver sable Bursche, hatte einen beeindruckenden Stammbaum und sah umwerfend aus. Leider war seine Karriere im Ausstellungsring alles andere als kometenhaft, denn er war mehr daran interessiert, sich mit den Leuten zu unterhalten, mit den Richtern und den hübschen Hündinnen zu plaudern, als sich in Pose zu werfen und im Ring herum zu traben. Daher verabschiedete er sich vom Ausstellungsring und zog zu Holly, der Nichte seiner Züchterin, eine sanfte und liebenswürdige junge Dame und Lehrerin einer 3. Klasse. Sie war glücklich, ihn bei sich aufzunehmen und zusammen versuchten sie verschiedene Arten von Hundesport. Aber Obedience langweilte Henry; wie viele Male kann man erwarten, dass ein Kerl einen Apportierbock holen soll? Agility war viel zu anstrengend und Henry konnte nicht verstehen, was die ganze Aufregung sollte, wenn er sich im Tunnel für ein kurzes Nickerchen hinlegte. Er genoss die Fahrt aufs Land, wo die Kurse für Hütehunde stattfanden, aber die Schafe waren einfach - naja - zu übelriechend.

Die letzte Möglichkeit in der Hundeschule war ein Kurs für Therapiehunde und hier waren Henry und Holly endlich in ihrem Element. Das Training absolvierten sie mühelos, bestanden die Prüfung mit Bravour und begannen mit den Besuchen im nahe gelegenen Pflegeheim, wo Henry die vielen einsamen Menschen bald lieb gewann.

Und dann entdeckten Henry und Holly die magische Welt von R.E.A.D. - the Reading Education Assistance Dogs Programm. Was könnte schöner sein als Hunde, Kinder und Bücher, vereint bei fröhlicher Aktivität? Henry und Holly wurden als R.E.A.D.-Team registriert und, zusammen mit mehreren anderen Teams, begannen sie ein Programm in der nahegelegenen Bibliothek. Hätte Henry sprechen können, hätte er gesagt, dass er der glückliste Corgi und der grösste Glückspilz auf Erden sei!

Aber nun zurück zu jener mystischen Mitsommernacht. Als die Festlichkeiten zu Ende gingen, kehrten Henry und Holly nach Hause zurück und gingen schnell zu Bett, um sich ordentlich auszuschlafen. Als die Standuhr im Flur Mitternacht schlug, seufzte Henry, kuschelte sich an Holly und schloss die Augen.

*

Henrys Nase begann zu kitzeln, er öffnete die Augen und bemerkte ein Flattern von Flügeln und wie Goldstaub auf seine Nase rieselte. Er schaute auf und erblickte eine liebliche kleine Elfe, die über seinem Kopf schwebte. Er blinzelte, schüttelte den Kopf, um richtig wach zu werden sich den Schlaf aus den Augen zu wischen, und guckte nochmals. Dann begann die Elfe zu sprechen.

"Guten Abend, Henry. Mein Name ist Fflur und ich bin eine walisische Elfe. Ich bin gekommen, um dich auf ein Abenteuer mitzunehmen." Alsdann nahm sie einen winzigen Sattel und Zaumzeug aus kleinen, zusammen geflochtenen Blümchen hervor und bat Henry aufzustehen. Was für ein schöner Traum, dachte Henry, legte seinen Kopf zurück aufs Kissen und glitt wieder in den Schlaf hinüber.

*

Nach einer Weile erwachte Henry. Er befand sich in einer dunklen Höhle; einzig der flackernde Schein der Glühwürmchen liess die Umgebung erahnen. Nachdem sich seine Augen der Dunkelheit angepasst hatten, erkannte er die Umrisse eines winzigen Mädchens, das ein Buch in den Händen hielt. In ihren Augen glitzerten Tränen, die auf das aufgeschlagene Buch tropften, und Henry konnte deutlich sehen, dass die winzige Person sichtlich verzweifelt war. Langsam stand er auf und bewegte sich vorsichtig auf sie zu, dann stupste er sie sanft mit seiner feuchten, schwarzen Nase. Sie sah auf und begann noch stärker zu weinen, so dass er sie mit einem leisen "Wuff" zu trösten versuchte. Sie drehte sich zu ihm um und schluchzte weiter. In diesem Augenblick wünschte er sich mehr denn je, dass er sprechen könnte. Er war es gewohnt, dass Holly in der Bibliothek seine Gedanken in Worte umsetzen konnte, aber er ahnte nicht, wie er zu diesem winzigen, lieblichen Mädchen sprechen sollte. Er hatte bemerkt, dass sie keine Flügel trug, und nahm daher an, dass sie keine Elfe war wie Fflur. Frustriert wuffte er nochmals, um ihr zu zeigen, dass er ihr helfen und herausfinden wollte, was los war.

"Ach, lieber Herr Corgi, ich bezweifle, dass du oder sonst jemand mir helfen kann", sagte das kleine Mädchen. "Mein Name ist Enfys was auf Walisisch Regenbogen bedeutet. Ich bin eine Elfe, aber ich kann keine Flügel kriegen, bevor ich lesen kann, und keiner hat es mir bis heute beibringen können", jammerte sie. "Meine Flügel befinden sich im Topf mit Gold am Ende des Regenbogens, aber ich befürchte, ich werde nie in ihren Besitz kommen."

Henry war echt verwundert - erstens dass sie genau verstanden hatte, was er ihr sagen wollte und zweitens, dass es sich um ein Problem handelte, das er ihr helfen konnte zu lösen. "Mein liebes Fräulein Enfys, mein Name ist Henry und ich glaube, ich kann dir bei der schwierigen Aufgabe behilflich sein. Ich bin nämlich ein Lese-Assistenzhund und meine Arbeit besteht darin, den Kindern bei ihren Lesefähigkeiten zu helfen und sie zu unterstützen, damit sie entspannter lesen können."

Enfys Gesicht erhellte sich etwas bei dieser Nachricht und sie streckte Henry das Buch entgegen. "Glaubst du wirklich, dass du mir beibringen kannst, das Buch zu lesen?" fragte sie. Henry warf einen Blick auf den Titel und sah, dass es ein Buch war, das er kannte - I'll Teach My Dog 100 Words (Ich bringe meinem Hund 100 Worte bei) von Michael Frith und P.D. Eastman. Er und Holly hatten es fleissig benutzt, um in der Bibliothek den Anfängern das Lesen beizubringen, und alle Kinder, die es ihm vorgelesen hatten, hatten ihren Namen in Henrys Exemplar geschrieben, damit er sie nie vergessen würde.


Illustration ©2014 Béatrice Quinio

Henry schlug das Buch auf der ersten Seite auf und wies mit seiner Pfote auf die Wörter in Rot. Dann zeigte er Enfys, wie die Illustrationen genau das zeigten, welches die Worte bedeuteten. Sie war erstaunt, dass die Bilder ihr helfen konnten, die Worte zu lesen. Enfys hatte ein Set Alphabet-Lernkarten und Henry benutzte diese, um zu zeigen, wie die Phonetik ihr helfen konnte, die Buchstaben auszusprechen und sie zu Wörtern zusammen zu setzen. Er wandte eine Technik genannt Pfoten-Phonetik an, wobei er bei langen Wörtern mit seinen Pfoten abwechselnd Silben des Wortes zudeckte, so dass Enfys nur einen Teil des Wortes aufs Mal sehen konnte. Sie war erstaunt, wie leicht es ihr auf einmal fiel, die Wörter zusammen zu setzen, und mit jeder Seite gewann sie mehr Vertrauen, bis sie das Ende des Buchs erreicht hatte. Sie war dankbar, dass Henry sie nie kritisierte oder korrigierte wie andere, die versucht hatten, ihr das Lesen beizubringen. Stattdessen ermunterte er sie und kam mit Vorschlägen und Ideen, wie sie die Wörter selbst entziffern konnte. "Ach, liebster Henry, ich kann es nicht glauben, dass ich das ganze Buch gelesen habe!" rief sie voller Freude.

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Als es Zeit war, eine Pause einzulegen, nahm Enfys Henry an der Pfote und führte ihn aus der Höhle in einen wunderschönen Wald. Sie naschten saftige rote Beeren und bestaunten Pilze, die gross genug waren, um den Elfen als Sonnenschirme zu dienen. Sie schlenderten aus dem Wald hinunter zum Gelände der Elfen, wo Henry Dutzende von reizenden Elfen bemerkte, die kochten, wuschen, nähten und all den häuslichen Pflichten nachgingen, die täglich anfallen. Es waren auch viele Corgis anwesend; einige zogen Wagen mit Wäsche oder Lebensmitteln, andere standen gesattelt und aufgezäumt bereit, die Elfen zu tragen, wohin sie es wünschten. Alle hatten eine Aufgabe und schienen die Arbeit mit Freude zu verrichten.

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Als Enfys und Henry zu ihrer kleinen Höhle zurückkehrten, wurden sie von Fflur erwartet. Sie hatte ihnen ein grossen Stapel Bücher mitgebracht. Enfys klatschte in ihre kleinen Hände und wollte sofort wieder mit dem Lesen beginnen und Fflur zeigen, was sie gelernt hatte. Sie las mehrere Geschichten und erklärte dann, Titus Rules von Dick King-Smith zu ihrem absoluten Lieblingsbuch. Obwohl die Elfen ihre eigene Elfenkönigin liebten und verehrten, bewunderten sie auch Queen Elizabeth II, und das Buch handelt von einem Welpen namens Titus, der bei der Königin wohnt und ihr Herz gestohlen hat. Enfys fand besonderen Gefallen daran, dass Prinz Philip seine Frau Madge, kurz für "Your Majesty", nannte.

Henry hatte das allerschönste Buch bis zum Schluss aufgespart und, wie er es erwartet hatte, liebte Enfys Tasha Tudors Corgiville Fair. Sie war bezaubert von den Boggarts und von Josephine, der Rennziege. Sie erklärte, dass sie gerne in Corgiville leben möchte, aber Henry machte sie vernünftig darauf aufmerksam, dass sie ja bereits in ihrem eigenen Elfen-Corgi Paradies lebte.

*

Als es zu dämmern anfing, kam Fflur zurück, um Henry und Enfys zum Dorf zu begleiten, wo das Mittsomernachtsfest bereits im Gange war. In der Mitte des Treibens war Rhiannon, die Göttliche Königin der Elfen. Sie war in Gold gekleidet und ihre Flügel funkelten wie Diamanten. Fflur und fünf andere Feen warteten ihr auf und es war deutlich, dass sie Rhiannons Hofdamen waren. Fflur flüsterte in Rhiannons Ohr, worauf sich diese erhob und Enfys an ihre Seite winkte. Schüchtern klammerte Enfys sich an Henry, aber er sprach ihr zu und schubste sie in Richtung der Elfenkönigin. Henry versuchte, sich zu den anderen Corgis zu gesellen, die nicht weit entfernt versammelt waren, aber Enfys, die so klein war, dass ihr Kopf nur gerade bis zu seiner Schulter reichte, wickelte ihre winzigen Finger in seinen üppigen Pelz und bat ihn, bei ihr zu bleiben.

Rhiannon sprach mit einer singenden Stimme, die an winzige Glöckchen erinnerte. "Enfys, ich verstehe, dass du mit Hilfe deines Freundes Henry eine tüchtige Leserin geworden bist. Es freut mich ausserordentlich, dass ich dir nun deine Flügel schenken kann." Alsdann reichte eine der Hofdamen der Elfenkönigin ein Paar silberne Flügel, welche sie an Enfys befestigte. Alle Elfen jubelten und die Corgis stimmten mit leisem Wuffen ein. Enfys schlang ihre kleinen Arme um Henry, gab ihm die kräftigste Umarmung, die sie aufbringen konnte, und sagte: "Jetzt, mein lieber Freund, kann ich dich besuchen und in jeder Mittsommernacht auf einen Ausflug mitnehmen!"

Das Fest dauerte noch eine Weile, dann zogen sich alle Elfen und Corgis zurück zum Schlafen und Träumen.

*

Holly schlief immer noch fest, als die ersten Strahlen der Morgendämmerung ins Schlafzimmer drangen. Henry öffnete ein Auge und entdeckte, dass immer noch etwas Goldstaub auf seiner Nase klebte. Hatte dieses mystische Abenteuer wirklich stattgefunden, oder was er nur ein schöner Traum? Und dieser rote Fleck auf seiner weissen Brust - konnte der womöglich von einer dieser saftigen Beeren stammen? In der Mittsommernacht im nächsten Jahr würde es sich herausstellen. Jetzt aber wollte er noch etwas schlafen, damit er später am Tag in Topform war, wenn er seine Freunde im Pflegeheim besuchte.

* * *

Im Frühling 2013 veranstaltete der Pembroke Welsh Corgi Club vom Potomac einen Schreibwettbewerb mit dem Motto Mythen und Legenden und Maggi Payne in Florida gewann mit dieser Geschichte den 1. Preis in der Kategorie für Nicht-Mitglieder. Die Geschichte wurde in "The Tide", dem Newsletter des Clubs publiziert.

Übersetzung ANo mit freundlicher Genehmigung

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23.04.2020