Der Schneemann und der Corgi
von Béatrice Quinio

"Was für eine wunderbare Kälte ist es doch heute", sagte der Schneemann. "Mein ganzer Körper knackt vor Freude. Der Himmel ist grau und hängt tief, und dieser eisige Wind, der einen so richtig durchpeitscht. Ich wünschte, es würde ein Leben lang dauern."

Der Schneemann wurde an einem eisigen Nachmittag im Dezember im Hof des Bauernhauses geboren, inmitten entzückter Schreie der Kinder. Die bleiche Sonne war im Begriff unterzugehen und der Vollmond erschien am Himmel; gross und rund, hell und schön leuchtete er am schwarzen Himmel unter den Sternen.

"Wenn ich nur wüsste, was ich machen soll, um von hier weg zu kommen", sagte der Schneemann und seufzte. "Ich möchte mich so gerne etwas bewegen. Wenn ich das könnte, würde ich mich sofort auf das Eis des Teichs begeben und darauf herumschlittern so wie es soeben die Kinder gemacht haben. Ich möchte auch reisen und die Welt und ihre Wunder entdecken... Aber ich kann mich nicht rühren."

"Weg! Weg!" bellte der kleine Corgi des Hauses, der diesen Abend im Hof Wache hielt. Jetzt, wo er in die Jahre gekommen war, war er bei Einbruch des Winters etwas heiser geworden und konnte nicht mehr richtig bellen. Aber er liebte es immer noch, sich angeregt mit den kleinen Gästen zu unterhalten, die sich im Winter um den Hof scharten, den Meisen und Rotkehlchen, den Füchsen und Wieseln, und nicht zu vergessen, den winzigen Eisfeen, welche nur die Corgis sehen können. "Die Sonne wird dich schon bald auf die Reise mitnehmen", sagte er zum Schneemann. "Ich habe das bei deinem Vorgänger im letzten Winter gesehen. Weg! Weg!"
"Das begreife ich nicht", antwortete der Schneemann. "Wie kann sie mich auf die Reise schicken?"
"Du weisst überhaupt nichts", gab der kleine Corgi zurück; "aber es ist wahr, du wirst die Welt schon bald entdecken. Gestern, als die Kinder von der Schule nach Hause kehrten, schneite es. So bist du auf die Welt gekommen. Aber glaub mir, wenn morgen die Sonne zurückkehrt, wird für dich ein grosses Abenteuer beginnen."
"Aber wie das?" Der Schneemann kam aus dem Staunen nicht mehr raus.
"Es ist ein Wetterumschwung im Anzug. Ich merke das an meiner linken Hinterpfote. Weg! Sobald die Temperatur etwas ansteigt, wirst du langsam anfangen zu schmelzen und dich in Wasser umwandeln. Dann wirst du von hier in den Bach fliessen, der sich dort unten hinter der Scheune befindet. Dieser Bach führt zum Fluss und der Fluss führt zum grossen Meer, das nach den Feldern und Hügeln beginnt, dort wo die Sonne am Abend untergeht."
"Mein Freund, du bist schon viel länger auf der Welt als ich, kannst du mir sagen, ob es schmerzhaft ist zu schmelzen", erkundigte sich der Schneemann etwas beunruhigt. "Ich kenne das Leben ja nur von der Kälte her... "
"Keineswegs", erwiderte der kleine Schäferhund. "Du wirst fast nichts merken. Nur die Liebkosung der Sonne! Und vertrau meinem Corgi-Wort, sie ist sanfter als dieser eisige Wind!"
"Da bin ich aber erleichtert", hauchte der Schneemann. "Aber wenn ich einmal im Meer bin, was geschieht dann mit mir", wollte er trotzdem wissen.
"Das ist das Schönste an der ganzen Sache! Weg! Weg!", bellte der kleine Schäferhund nochmals, sehr zufrieden mit sich selbst. Er strahlte über das ganze Gesicht und drehte sich dreimal um sich selbst. "Siehst du die kleine Wolke, die aus meinem Maul entweicht, wenn ich belle? Das ist Wasserdampf und in dieser Form wirst du vom Meer aufsteigen bis zu den Wolken am Himmel, welche dich in andere Länder bringen werden. Im nächsten Winter wirst du als Schneeflocken wiedergeboren und wenn du dich geschickt anstellst, wirst du an einem Ort niederfallen, wo Kinder spielen... verstehst du?"


Das Wetter schlug tatsächlich um. Gegen den Morgen brachte eine strahlende Sonne das schneeweisse Land zum Glitzern. Die ganze Landschaft glich einem Wald aus weissen Korallen. Die Eisfeen hatten die ganze Nacht gearbeitet. Noch ganz steif begann der Hahn zu krähen. Schon bald würden die ersten Strahlen die Landschaft genügend erwärmen, um den Schnee auf der gefrorenen Erde zum Schmelzen und die Amseln zum Singen zu bringen.

Während der kleine Corgi beim warmen Ofen in der Küche eingeschlafen war, begann der Schneemann zu tropfen, alsdann zu schwitzen, immer schneller, bis er nach allen Seiten floss. Zur Mittagszeit war fast nichts mehr von ihm übrig. Seine beiden grossen Kohlenaugen lagen auf der Erde und die kleinen Vögel waren mit der Rübe, die seine Nase war, weggeflogen.

Aber hinter der Scheune, in der Nähe des Feldes, wohin der Corgi üblicherweise seine Herde begleitet, hörte man an diesem Tag das klare und fröhliche Lied des Baches, mit dem sich der nun geschmolzene Schneemann vermischte, überglücklich, dass er nun seine grosse Reise angetreten hatte, die sein Freund der Hund ihm versprochen hatte.

Frei nach Hans Christian Andersens Märchen "Der Schneemann".
Deutsche Übersetzung: ANo
©Béatrice Quinio

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18.11.2022