Die Rache des
Geprügelten
Dass man seinen Hund nicht bestrafen soll, selbst wenn er sich
erst nach endlosem Bemühen, nach hektischem Rufen und
Pfeifen dazu bequemt, in gemächlicher Gangart
herbeizutrotten, gilt in der modernen kynologischen Literatur
als unumstössliches Gesetz. Fettgedruckt präsentiert
sich diese eherne Regel in jedem schlauen Erziehungsbuch, auf
dass sich der Hundebesitzer dies hinter die Ohren schreiben und
den Rat beherzigen möge, die treue Hundeseele nicht
über Gebühr zu strapazieren.
Im Bemühen, dieses Dogma nicht leichtfertig aufs Spiel zu
setzen, befolgte ich diese Massregel stets mit eiserner
Konsequenz, -wenn auch mitunter innerlich auf dem Siedepunkt,-
empfing die endlich, endlich herbeitrudelnden Hunde unter dem
Schein der Gelassenheit, ein gefrorenes Lächeln im
Gesicht, ein verlockendes Häppchen in der Hand - bis auf
ein einziges Mal, als meine ansonsten stählernen Nerven in
Fetzen gingen.
Nun ja, da ist mir halt einmal die Hand ausgerutscht, mit all
den Konsequenzen, auf die in der Hundeliteratur so
nachdrücklich hingewiesen wird.
Das kam so:
Wir, ein alterndes Ehepaar, haben uns mit unseren beiden
Cardigans, dem halberwachsenden Rüden Merlin und der
kleinen, knapp in der Pubertät steckenden Kundry zu einem
verschworenen Rudel zusammengeschlossen.
Ein weitläufiges Areal mit Wald und Wiese, mit
uneinsehbaren Verstecken, mit Bach und Teich, umzäunt von
einem soliden Maschendrahtgehege, offeriert den Hunden eine
nahezu uneingeschränkte Freiheit. Trotzdem bietet die Welt
ausserhalb des Zauns mannigfache Verlockungen. So auch, im Juni
dieses Sommers, in Gestalt eines süss duftenden
Rehkadavers, der in einem ausgetrockneten Bachbett, jenseits
des Haags friedlich vor sich hin rottete. Kein Wunder also,
dass sich unsere Hund von jener stinkenden Gegend
unwiderstehlich angezogen fühlten und sich so lange
abmühten, bis das Loch zur Aussenwelt perfekt und der Weg
zum ersehnten Aas geebnet war.
In Unkenntnis dieser Heimlichkeiten machten wir jeweils gute
Miene zum bösen Spiel, wenn die Hunde sich für
längere Zeit in Nichts auflösten. Ja, wir blieben
sogar naiv-ahnungslos, selbst wenn sie mit unschuldsvollem
Kläffen vor dem in entgegengesetzter Richtung sich
befindenden Gartentors Einlass begehrten.
Eines gewitterträchtigen Sommerabends führte ich die
Hunde wie gewohnt:, unangeleint zu später Stunde zwecks
Versäuberung ins Freie.
Schon nach kurzer Zeit hebt Kundry ihre empfindsame Nase hoch,
schnüffelt und flitzt wie ein Pfeil in die Dunkelheit,
Merlin, als hörigen Mitläufer im Gefolge.
Natürlich, sogar meine Menschennase riecht den
süsslichen-widerlichen Duft nach totem Reh in der
trägen Nachtluft.
Weg sind und bleiben sie, aller Rufe und Pfiffe zum Trotz, die
wir wohl eine Stunde lang in alle Richtungen aussenden.
Vergeblich durchforschen wir bei nächtlicher Finsternis
die gewohnten Ruhe- und Schlafplätze unter Sträuchern
und Bäumen und setzen uns schliesslich unverrichteterdinge
vors Haus.
Die Erbitterung steigert sich bedrohlich, die Diskussion dreht
sich immer hektischer um meine mangelhaften
Erziehungskünste, ums Weitersuchen oder Resignieren - bis
schliesslich im fahlen Licht der Vorplatzbeleuchtung vier
spitze Ohren aus dem Dunkel auftauchen.
"Euch will ich - ihr Lumpenpack...,"
Kundry wird mit Schwung in ihren separaten Schlafraum
befördert, Merlin duckt sich im Korridor mit flachen Ohren
in seinen Korb und tut, als wäre er nicht vorhanden.
Und dann
gingen mir doch tatsächlich die Nerven durch, "Willst du
uns eigentlich zum Narren halten, du unmögliches
Mistvieh?" Und schon knallt ein Hieb mit der Leine auf Merlins
armes Hinterteil - und noch einer - und aller schlechter Dinge
sind drei....zwei sanfte, dunkle Augen aus einem unendlich
lieben Hundegesicht richten sich auf mich, mit einem Ausdruck
des Entsetzens, verständnislos, zutiefst verletzt und
voller Vorwürfe - ein Blick, den ich niemals vergessen
werde und der mich jäh in die Welt normaler Empfindungen
zurückversetzt.
Und dann springt Merlin mit einem Satz aus seinem Korb,
stürzt blindlings durch die offenstehende Haustüre
ins nächtliche Dunkel. Zurück bleiben
Ernüchterung, Beschämung, Reue über den
Kurzschluss. Klar, dass alle Rufe ungehört verhallen. Wir
machen uns auf die Suche nach dem Ausreisser, mein Mann in die
höhergelegenen Gefilde,, ich den Berg hinunter zum
Eingangstor - und begegnen uns wieder vor der Haustüre,
resigniert und traurig.
Die Zeit rückt gegen 23 Uhr. Wir hängen ratlos und
unschlüssig herum, lauschen in die Finsternis. Mein Mann
verkneift sich unverkennbar wohlberechtigte Vorwürfe. Da
kommt mir die Erleuchtung. Natürlich, unzertrennlich, wie
die beiden sind, wird Kundry Merlin aufstöbern.
"Kundry, such Merlin!" Kundry zerrt mich schliesslich an
langer Schnur durch unwegsames Gelände, schnuppert und
reisst mir im Davonstürzen unvermittelt die Leine aus der
Hand, Weg ist nun auch sie. Ihr hell klingendes Gekläff
verhallt in Richtung Verwesungsduft. Zum Glück verfing
sich die Nylonschnur in einem steinigen Bachbett, aus dem wir
die jämmerlich Zappelnde unter unterdrücktem Fluchen
befreien und flugs in ihrem Schlafkorb unter sicherem
Verschluss halten.
Kundry
Inzwischen ist es weit nach Mitternacht. Die Vorwürfe
meines Gatten über meinen Unverstand lassen nunmehr an
Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig, und sind
so unüberhörbar, wie das drohende Donnergrollen in
der Ferne. Ein Wetterleuchten am westlichen Himmel
beschwört Horrorvisionen von überfahrenen Igeln,
Katzen und Fröschen auf der stark befahrenen Seestrasse,
von ruppigen Felsabstürzen, von unzugänglichen
Schluchten und übereifrigen Wildhütern. Das treibt
mir Tränen der Angst in die Augen, und so beschliessen wir
einmal mehr in der ersten Stunde des neuen Tages die Umgebung
zu durchforschen.
Gemeinsam erklimmen wir den steilen Pfad den Berg hinauf. Wir
rufen, locken, pfeifen - kein erlösendes Gebell antwortet
auf unser verzweifeltes Bemühen, kein vierbeiniger
Schatten bestürmt uns. Dann zurück, schlitternd und
gleitend in nächtlicher Schwärze, hinter dem
schwächlichen Lichtkegel der Taschenlampe her, hinunter
zum vielgeliebten "Hundeübungsplatz" vor dem Gartentor -
Merlin ist und bleibt verschwunden.
Bald ist es drei Uhr morgens. Was bleibt anderes, als den Rest
der Nacht sich schlafenderweise um die Ohren zu schlagen -
unter Tränen und Selbstvorwürfen, versteht sich ...
Um sechs Uhr in der Früh stürzen wir in den Garten,
Erklang da nicht aus undefinierbarer Richtung Hundegebell? Und
wieder- und nochmals, diesmal eindeutig ausserhalb des Zauns.
Wir laufen die zweihundert Meter zum Tor, öffnen treten
hinaus und, ja - wer kommt denn da hinter der Schrägwand
zum Vorschein? Tricolor, so heftig wedelnd, dass der ganze
kleine Körper mitschwingt, die Ohren flach, die Augen voll
ungebändigter Lebenslust - Merlin, der uns mit seinem
vertrauten, langgezogenen Uuuhhh, aus hochgereckter Schnauze
begrüsst. Beglückt schliessen wir den Ausreisser in
die Arme, quetschen ihn voller Wiedersehensfreude an uns -
welch unvergesslicher Augenblick der Erleichterung!
Merlin drängt sich zwischen uns, trabt sichtlich
befriedigt zum Haus, balgt sich übermütig mit seiner
Kundry und begehrt schliesslich lauthals sein
Frühstück, nach altbewährter Weise: Kommt der
Landsknecht ins Quartier, schreit er gleich nach Wurst und
Bier...
Unsere Rudelgemeinschaft ist wieder im Lot, alles geht seinen
gewohnten Gang. Ich glaube, Merlin hat mir verziehen, ist er
doch so unbefangen und vertrauensvoll, wie eh und je.
Die sorgenvoll erlebten Stunden des Wartens aberzwingen mich
zum Nachdenken über Sinn und Berechtigung des Strafens bei
unseren, sich jenseits von Gut und Böse befindlichen
vierbeinigen Familienmitgliedern. Zu Recht wird der Standpunkt
vertreten, dass Strafe unumgänglich ist, wenn der Hund sie
unmittelbar mit seiner Missetat in Zusammenhang bringen kann.
Aber Hiebe einstecken zu müssen, wenn man freudig erregt
aus der ereignisreichen Welt ausserhalb des Zauns in die
vermeintliche Geborgenheit des Heims zurückkehrt - das
bedeutet doch wohl die totale Missachtung der
"Persönlichkeitsrechte", die man selbst einem
abhängigen Rudeltier zuweilen zubilligen sollte. Jedes
Lebewesen braucht seinen individuellen Freiraum, den es, ohne
Strafe fürchten zu müssen, nach seinem Ermessen
nutzen darf, selbst ein Hund, den wir nicht zu unserem Sklaven
degradieren wollen.
Und sollten aus der Gewährung eines solchen Freiraumes
Unannehmlichkeiten erwachsen, liegt es an uns, geeignete
Gegenmassnahmen zu treffen. Nicht mit unüberlegten
Schlägen, sondern wie z.B. in unserer Situation durch
dauerhaftes Abdichten des Zauns, auf dass die Verlockungen der
weiten Welt künftig ausserhalb jeder hundlichen Reichweite
liegen mögen.
C. Langemann-Lavater
Corgi News Dezember 1994
20.05.2010
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