Harry der
Vogelfreund
von Helen Brassel, Sherborn, Massachusetts
Harry liebt Vögel. Rotkehlchen, Spatzen, Finken,
Eichelhäher. Sein Blick wird glasig, wenn er einen Vogel
sieht, und wenn man sich eine Sprechblase über seiner
gerunzelten Stirn vorstellt, würde sie einen Vogel
enthalten. Gestopft, gebraten, mit weissen Papiermanschetten an
den Beinen, auf einem silbernen Tablet. Harry hat Geschmack.
Enten und Gänse interessieren ihn nicht. Katzen langweilen
ihn und Kekse in der Form von Hunden scheinen seine ziemlich
begrenzte Intelligenz zu kränken.
Kein Grund zur Sorge, versicherten wir uns gegenseitig, er wird
nie einen Vogel fangen. Aber er versucht es und wie er es
versucht. Wie ein Raubtier auf der Serengeti Ebene liegt er auf
der Lauer, die Augen immer gen Himmel gerichtet, und die Ohren so
flach wie nur möglich angelegt.
Obwohl man sagt, dass in ihrem Hirn nicht viel Platz hat,
scheinen die Vögel ganz offensichtlich über Harrys
unlautere Absichten im Klaren zu sein. Sie sitzen und zwitschern
auf einem Zweig in unmittelbarer Nähe. Sie spazieren, ja,
förmlich spazieren über seinen Weg. Er springt von
seinem Platz, seines Erfolgs wenigstens dieses eine Mal sicher,
mit geifernden Lefzen, schnappenden Kiefern, wirbelnden Pfoten
und … verfehlt seine Beute. Ich hätte nicht gedacht,
dass Vögel lachen können.
Mit verstohlenen Blicken zum Wohnzimmerfenster (er hat
schliesslich seinen Stolz) schleicht er zurück zu seinem
Posten auf der Veranda.
Harry schien die Freude am Leben verloren zu haben. Vielleicht
waren es die Vögel. Ihre Unbekümmertheit nahm zu, von
waghalsig bis tollkühn, und trotzdem entkamen sie seinen
tollpatschigen Angriffen. Sie sassen auf dem Geländer der
Veranda, sie stolzierten auf dem Briefkasten herum, sie flogen an
seiner stetig wärmer werdenden Nase vorbei.
Der Glanz in Harrys Augen verschwand, er wurde lustlos,
apathisch. Eine dramatische Wandlung in Anbetracht dessen, dass
Harry bis anhin ein richtiger Komiker war, mit einer grossen
Ähnlichkeit mit Harpo Marx.
Harpo Marx
Nicht einmal sein bevorzugter Zeitvertreib, eine Fahrt mit dem
Auto, vermochte auch nur den Schatten eines Lächelns auf
seine dünnen schwarzen Lefzen zu zaubern. Die vorbeiziehende
Szenerie konnte sonst das ganze Register von Harrys Gefühlen
ausreizen - eine Katze auf dem Weg verwandelte Harry in den Hund
von Baskerville. Beim Anblick einer Person, die einen Hamburger
verzehrte, zog Harry seine Wangen ein, um sich ein ausgehungertes
Aussehen zu verleihen, und zwei Kinder, die in einem Garten
Fang-mich spielten, brachten Harry auf die Knie. Heute? Keine
Reaktion.
Er schien auch mich lange und genau studiert zu haben und
offenbar existierte ich nicht mehr. Er hatte bedauerlicherweise
das Interesse an der Hand, die ihn füttert, verloren.
In einem letzten Versuch seine Hingabe zu testen, parkte ich das
Auto bei der lokalen Drogerie. Früher, wenn das Objekt
seiner Zuneigung das Auto verlassen hatte, schenkte Harry der
Ladentür genau so viel Aufmerksamkeit wie einem T-bone
Steak. Sollte der Blick aus dem Autofenster den lokalen
Hundefänger offenbaren, der gerade dabei war, einige seiner
engsten Freunde einzufangen, würde er keinen Wank tun, ja er
würde nicht einmal mit der Wimper zucken. Stocksteif,
perfekt wie ein Pointer, würde der treue Hund auf sein
Frauchen warten. Aber an diesem Tag lag Harry bei meiner
Rückkehr auf dem Sitz wie ein Ballon, aus dem die Luft
entwichen ist, mit halbgeschlossenen Augen und Seufzern, die die
Aschenbecher leer bliesen.
Ein Besuch beim Tierarzt würde ihn aufmuntern - etwas
Aufmerksamt im Kreis seiner Kollegen würden den Glanz in
seine Augen und die Elastizität in seine Schritte
zurückbringen. Und so zogen wir los.
Und richtig, seine Kollegen waren da. Im Wartezimmer des
Tierarztes befand sich eine stattliche Auswahl: ein Beagle, ein
Boxer, ein Terrier, zwei Katzen und ein Papagei. Harrys Interesse
am Leben kehrte zurück.
Seiner Neigung treu galt sein Interesse nicht den Katzen sondern
dem Papagei. Vorsichtig näherte er sich dem Käfig des
Papageis, während ich die Leine fest im Griff hielt. Der
Vogel ignorierte Harry, seine Augen waren auf den Tierarzt
fixiert, der seinem Besitzer das Zeichen gab, dass er an der
Reihe war. Der Papagei begrüsste ihn mit einem begeisterten
"Hallo, Harry". Harry erstarrte. Die Überraschung hätte
nicht grösser sein können. Schliesslich war hier ein
Vogel, der zu ihm sprach. Dass Harry und sein Tierarzt den
gleichen Namen tragen, war völlig irrelevant. Harry war
beeindruckt.
Das Rezept des Tierarztes für Harry war einfach genug.
Harry brauchte Gesellschaft. Wenn Harry einen Kameraden
hätte, würde er das Interesse an seinen gefiederten
Widersachern verlieren. Ein zweites Haustier, ein Welpe
vielleicht, würde ihn auf andere Gedanken bringen.
Harry kehrte zu seinem Wachposten auf der Veranda zurück,
aber jetzt mit einem Ausdruck voller Erwartung und gespannter
Vorfreude. Er betrachtete den Eichelhäher auf dem
Briefkasten, aber ohne sich zu rühren. Er neigte sich
erwartungsvoll vor, als der Vogel den Schnabel aufmachte. Harrys
Unterkiefer sank herab. Aus der Kakofonie der Stimmen, war nicht
ein einziger Gruss, kein "Wie geht's Harry?", nicht einmal ein
"Hallo" zu vernehmen. Harry wollte keine gebratenen Spatzen, was
er wünschte war ein Gespräch.
Da es schien, dass es mit ihm schnell bergab gehen würde,
überlegte ich mir nochmals den Rat des Tierarztes. Es sah
aus, als habe er recht. Harry brauchte einen Freund, einen
Spielkameraden, jemanden mit dem er sich unterhalten und der ihn
aufmuntern konnte. Und so kam es, dass ich auf der lokalen
Heimtierschau die Frage stellte: "Was kostet der Papagei dort im
Fenster?"
Nicht Harry, aber zwei die sich verstehen
Corgi Kaley und Papagei Rani Macaw
Foto: Sandra Chow
Obwohl der Papagei nicht genau das ist, was der Doktor verordnet
hatte, beginnt Harry langsam die Lücke zu schliessen. Harry
frisst jetzt Vogelfutter und der Papagei hat gelernt, zu bellen.
Aus Corgi Quarterly, Herbst 1993
Übersetzung: ANo
20.11.2021
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